Pavel Koukal: Ein kunstbesessener Jubilar (Jubilant posedlý kumštem) 

Schon die ersten künstlerischen Jubiläen dieses Jahres deuten darauf hin, dass wohl etwas ausführlicher über ein Phänomen gesprochen werden wird, das man auch „Launer Schule“ nennt. Nach Kamil Linhart, der dieses „Jubiläumsjahr“ vor knapp vier Wochen ohne viel Aufheben eröffnete, folgt alsbald Zdeněk Sýkora (geboren am 3. Februar 1920 in Louny/Laun) und ihnen schließen noch weitere Jubilare an, unter denen auch der Dichter Emil Juliš nicht fehlen wird. Die Beziehung zwischen ihnen hat zweifellos etwas Schicksalhaftes, was ihnen selbst nicht entgehen konnte, aber über dieses Thema zu philosophieren, würde uns den gesamten Raum kosten, der für diesen Artikel vorgesehen ist. Und so haben wir den Platz lieber einem Gespräch mit dem Maler und Pädagogen gewidmet, der diese beiden Bereiche vereinte und zu seiner Lebensaufgabe machte. 

 

Ich bitte Sie jedoch, damit zu beginnen, wie alles anfing. 

Da müsste ich mit dem Allgemeinplatz anfangen, dass ich mich schon als Kind für Malerei interessiert habe. Und das bringt mich ein bisschen in Verlegenheit, denn es ist wirklich wahr. Von Kindheit an war bildende Kunst für mich etwas unheimlich Aufregendes. Im Schlafzimmer hing über meinem Kopf „Das Konzil zu Konstanz“ von Brožík, so ein furchtbar depressives Bild, das mich aber auf gewisse Weise immer fasziniert hat. Ich besuchte dann in Louny das Realgymnasium, wo der hervorragende Zeichenlehrer Jaroslav Mařík unterrichtete, ein ausgezeichneter Pädagoge, aber auch Kunsttheoretiker, der beispielsweise über den Impressionismus viel zu berichten wusste. Er vermittelte uns Kunsterziehung im besten Sinne und es war auch das einzige Fach, in dem ich sehr gut war.

 

Dank dessen war Ihr weiterer Weg sicher ungewöhnlich geradlinig? 

Der Wunsch, mich ganz dem Zeichnen und Malen zu widmen, wurde in mir immer stärker, und ich redete ständig auf meine Eltern ein, dass ich Zeichenlehrer werden möchte, denn der Gedanke, sich der Malerei zu verschreiben, war absurd, das hätten meine Eltern nicht überlebt! Es gelang mir nicht, sie zu überzeugen, und so ging ich mit mehreren Freunden zum Studium nach Příbram, an die Bergakademie. Nach der Schließung der Hochschulen arbeiteten die meisten von uns bei der Bahn. Ich hatte damals ein ziemlich wechselvolles Leben und war als Arbeiter, Telegrafist und dann drei Jahre lang als Fahrdienstleiter in Vrbno nad Lesy und Český Brod beschäftigt.

 

Wie vertrug sich die Liebe zur bildenden Kunst mit der Realität des Krieges? 

Die Rettung war eine Gruppe von Künstlern und Literaten aus Louny. Der Spiritus Agens des Ganzen war der Launer Bibliothekar Jaroslav Janík und der Motor, der alles in Gang brachte, der überaus aktive Kamil Linhart. Auch die ersten Ausstellungen fanden bei Linharts auf dem Dachboden statt, wo auch Vorträge über Dinge gehalten wurden, die mit der Realität des Krieges so gar nichts zu tun hatten.

 

Doch der Krieg endete und Ihre Generation stürzte sich gierig ins Leben. 

Schon während des Krieges wurde mir klar, dass ich nicht an die Bergakademie zurückkehre und mich auf jeden Fall der bildenden Kunst verschreibe. Und so meldete ich mich mit Linhart am Insitut für Architektur an, wo damals Kunsterziehung unterrichtet wurde – und damit war dann eigentlich unser Schicksal schon besiegelt! Dort waren hervorragende Künstler, wie Karel Lidický, Cyril Bouda und Martin Salcman, der auf uns den größten Einfluss hatte. Schon nach einem Jahr wurden wir Assistenten bei verschiedenen Professoren und dann begannen wir, selbst zu unterrichten. Ab 1966 /Redaktionelle Anmerkung: Kamil Linhart wurde bereits 1965 Dozent/ waren wir beide Dozenten an der Pädagogischen Fakultät der Karlsuniversität und harrten dort gemeinsam bis zur Pensionierung aus.

 

Jetzt muss ich Sie aber rasch in Ihrem Bericht bremsen, denn Ihre Arbeit an dieser Hochschule kann man nicht mit einigen wenigen Sätzen abtun. Es ist schließlich bekannt, dass diese Arbeit häufig über die Grenzen des jeweiligen Fachs hinausging und dass sie im „Mitteilen und Teilen, Schaffen, Diskutieren und Appellieren“ bestand, wie der damals vom Regime zum Schweigen gebrachte Kunsttheoretiker Jiří David schrieb. 

Auch wenn wir aus politischer Sicht schreckliche Jahre erlebten, war unsere Hochschule zum Glück so eine Art Oase, wo trotz des äußeren Drucks absolut offen über internationale moderne Kunst gesprochen und vorgelesen wurde, und es kam nicht vor, dass uns jemand angezeigt hätte. Zu unserer Freude kamen zu unseren Vorlesungen auch Hörer der Akademie, die stärker unter politischer Kontrolle stand. Wir hatten auch eine umfangreiche Bibliothek, die permanent durch Neuerwerbungen aus dem Ausland ergänzt wurde.

 

Ihre pädagogische Arbeit war untrennbar mit Ihrem freien künstlerischen Schaffen verbunden. Wodurch zeichnete es sich damals aus? 

Während des Krieges galt unser Interesse vor allem dem Surrealismus, dem Schaffensprinzip der ganzen Linhart’schen Gruppe, dem wir alle verfallen waren. Daneben faszinierte mich der Kubismus – paradoxerweise der absolute Gegenpol zum Surrealismus, und als ich nach dem Krieg an die Hochschule kam, akzeptierten die Professoren zwar meine kubistischen Bilder, aber sie verfolgten die sehr weise Philosophie, dass am Anfang das Studium der Natur zu stehen hat.

 

Mir scheint, der Sinn für Natur ist bei Ihnen ungewöhnlich stark ausgeprägt. War das der einzige Grund dafür, dass Sie Landschaftsmaler wurden, oder war das eher eine Flucht aus der tristen Realität der fünfziger Jahre? 

Schon während des Studiums ging ich zusammen mit Vladislav Mirvald /Redaktionelle Anmerkung: Vladislav Mirvald(1921–2003), Maler und Pädagoge. Einer der Gründer der Künstlervereinigung „Křižovatka“, führender Vertreter der geometrischen Abstraktion in der tschechischen bildenden Kunst. Ab 1941 lebte und arbeitete er in Louny. Genauso wie Zdeněk Sýkora und Kamil Linhart studierte er nach dem Krieg an der Pädagogischen Fakultät der Karlsuniversität Prag Kunsterziehung und deskriptive Geometrie auf Lehramt, danach unterrichtete er beide Fächer am Gymnasium in Louny./ und teilweise auch mit Linhart zum Malen in die Natur. Dort vertiefte sich meine Beziehung zur Natur weiter. In dieser „Landschaftsmalereiphase“ war ich vor allem von den Klassikern Slavíček und Prucha beeinflusst, das waren solche Ideale, auf die ich mich immer wieder bezog und die mir Kraft gaben. Gegen Ende der fünfziger Jahre war mein Ausdruck impressionistisch bis fauvistisch, und obwohl die Landschaftsmalerei eine gewisse Flucht war, flohen wir dennoch in die „falsche“ Richtung.

 

In dieser Zeit fanden Sie überraschenderweise ausgerechnet in der UdSSR Ihr größtes Vorbild? 

Der Verband bildender Künstler schickte damals einen ganzen Zug mit Künstlern zu einer Reise nach Russland und dort sah ich in der Leningrader Eremitage zum ersten Mal mit eigenen Augen eine Matisse-Sammlung, von seinen Anfängen bis zu den reifsten Arbeiten. Das war genau das, wonach ich gesucht hatte, und es brachte mich enorm voran. Nach meiner Rückkehr nach Hause war ich fünf Jahre weiter und das war unheimlich wichtig.

 

Ist es nun nicht schon Zeit für die Künstlervereinigung „Křižovatka“? 

Nach der Farbflächenmalerei, die stark an Matisse erinnerte, gelangte ich allmählich zu den rationaleren Formen einer gewissen geometrischen Abstraktion. Die Gruppe „Křižovatka“ – das waren Jiří Kolář, Fremund, Malich, Demartini und Fuka – /Redaktionelle Anmerkung: Was die Mitglieder der Gruppe „Křižovatka“ angeht, muss zwischen denen unterschieden werden, die die „geistigen Väter“ an Kolářs Tisch im Café Slavia waren, die aber nie mit der Gruppe „Křižovatka“ ausstellten – z.B. Vladimír Fuka; denjenigen, die an der ersten Ausstellung 1964 teilnahmen – Vladimír Burda, Richard Fremund, Jiří Kolář, Běla Kolářová, Karel Malich, Pavla Mautnerová, Vladislav Mirvald; und denen, die zu den nächsten Ausstellungen mit erweitertem Teilnehmerkreis hinzugebeten wurden (Gruppe „Křižovatka“ und Gäste, Neue Sensibilität/Nová citlivost, 1968). Mehr zu dieser Künstlervereinigung: Tichý, 2004; Wagner, 2006; Drápal, 2009./ stellte eigentlich eine Konkurrenz zur Gruppe D dar, zu der Mikuláš Medek, Jan Koblasa und andere Vertreter imaginativer Tendenzen gehörten. Sie waren schwer voneinander zu unterscheiden, und deshalb gaben wir uns bewusst den Namen „Křižovatka“ (Kreuzung), in dem Sinne, dass jeder von uns anders ist. Wir führten damals mit diesen „Dämonen“ einen freundschaftlichen „Machtkampf“, aber sie hatten sehr viel mehr Kunsttheoretiker auf ihrer Seite.

 

Womit gingen Sie damals an die Öffentlichkeit? 

Ich kam nach und nach in die geometrische Phase meines Schaffens und begann mit dem Computer.

 

Ich gebe zu, dass mich die Verwendung von Computern in der Malerei ein bisschen abschreckt. Worin bestand eigentlich diese Technik, die bei einer Reihe westlicher Experten Aufmerksamkeit weckte? 

Vor dem Einsatz des Computers schuf ich eine Reihe von Bildern, die strukturellen bis ornamentalen Charakter hatten. Es wirkte fast unnatürlich, und so hatte ich das Bedürfnis nach einem noch rationaleren Hintergrund. Ich setzte mich mit dem Mathematiker Jaroslav Blažek aus Louny in Verbindung, der an der mathematisch-physikalischen Fakultät Zugang zu einem Computer hatte, und nach zwei Jahren Überzeugungsarbeit hatte ich ihn überredet. Was ich ein Jahr lang im Kopf berechnet hatte, beschleunigte der Computer erheblich. Inzwischen wird alles vom Zufall gesteuert und die generierten Zahlen verkörpern die jeweiligen Qualitäten des Werks. Hier dominiert meine Vorstellung vom Bild und mithilfe der Technologie wird das Ergebnis festgelegt. Auf diese Art und Weise arbeite ich bis heute, wenn auch die Bedeutung des Computers zurückgegangen ist, als ich um 1974 von den strukturellen zu den linearen Bildern übergegangen bin. Daran halte ich schon zwanzig Jahre fest und ich bin nicht imstande, mich davon abzuwenden, denn die Arbeit mit dem Zufall bietet eine solche Bandbreite an Möglichkeiten, dass jedes Bild auch für mich selbst eine Überraschung ist. Manche Bilder ähneln natürlichen Strukturen, wie man sie z.B. unter dem Mikroskop sieht, und meist sind es Forscher oder Ärzte auf der Suche nach Reflexion in der Kunst, die Interesse an meinen Bildern zeigen. Das ist mir recht, denn für wissenschaftliches Denken interessiere ich mich mehr als für Philosophie.

 

In der Zwischenzeit sind wir hinüber ins Atelier gegangen, wo gerade Sýkoras Jubiläumsausstellung vorbereitet wird. Hinter der gläsernen Wand dieses Raums öffnet sich einem ein bezaubernder Blick auf den Berg Oblík und das gesamte Panorama des Böhmischen Mittelgebirges. Dort begreift man alles – auch das Wesen von Sýkoras Patriotismus gegenüber seiner Heimatstadt. 

Ich habe nie etwas in einem Atelier gemacht, von dem aus man nicht in die Natur blicken konnte. Deshalb war ich auch auf diese Straße erpicht, in der ich zwar nicht geboren bin, das war ein Stück weiter, aber von meinem Bett aus hatte ich damals denselben Blick, wie ich ihn jetzt aus dem Atelier habe – auf den Fluss, das Mittelgebirge und die nähere Umgebung. Die Liebe zur bildenden Kunst, das ist für mich Fluch und Segen. Ohne sie kann ich nicht existieren und glauben Sie mir, mit der Zeit nimmt das immer mehr zu, sodass ich inzwischen nur noch für die Kunst lebe …

 

Erstmals veröffentlicht in der Tageszeitung „Severočeský deník“, 4. 2. 1995, Jg. 5, Nr. 30, S. 4. Das Interview ist im Buch Zdeněk Sýkora Rozhovory (Zdeněk Sýkora Interviews) zu finden. 

Pavel Koukal (1944–2014), Journalist, langjähriger Redakteur der Tageszeitung „Severočeský deník“.