Jaroslav Čása: Eine Handvoll Fragen (Několik otázek) 

Zdeněk, du bist viel herumgekommen. Wo hast du dich am wohlsten gefühlt und wo erging es deinen Bildern am besten? Vor fünfzehn Jahren habe ich das erste Mal hinter den Eisernen Vorhang geschaut und war ziemlich verstört. Damals ging ich ins Museum für moderne Kunst in Paris und bettelte so lange um eine Ermäßigung für Studenten, bis sie mitbekamen, dass ich Tscheche bin, und so ließen sie mich umsonst hinein. Ich besah mir die Konstruktivisten, denen die Ausstellung galt /Redaktionelle Anmerkung: Die Rede ist von der Ausstellung „Aspects historiques du constructivisme et de l´art concret“, Collection McCrory, die vom 3. 6. – 28. 8. 1977 im Musée d´Art Moderne de la Ville de Paris stattfand. Im Verzeichnis der ausgestellten Arbeiten sind zwei Bilder von Zdeněk Sýkora aufgeführt./  man hatte sie aus aller Welt zusammengetragen, mit den Augen des 20. Jahrhunderts. Und ich stieß sofort auf Kupka. Mit ihm fing es an. Doch ich kannte aus den Büchern eher die ausländischen Maler. Ich verschlang ein Bild nach dem anderen. Und dann war da auf einmal deins. Eins von denen, die ich aus deinem Atelier kannte. Und in so schöner Gesellschaft: Malevič, Mondrian, Kupka, Riley, Sýkora. Ich las das Schild: Zdenek Sykora, Louny. Dieses „Louny“, das rührte mich damals am meisten. Und zu Hause wurde mir dann klar, dass auch aus Louny ein Weg in die Welt führt, unabhängig von Kommunisten, Schlau- und Dummköpfen, ohne Ideologie und Demagogie. Das war das eine. Zum anderen wurde mir bewusst, dass Kunst Glück ist. Von diesem Moment an beneidete ich dich darum, dass du immer imstande warst, dieses Ziel zu verfolgen. Zum Dritten: Diese beiden Gefühle trage ich seit dieser Zeit immer in mir. Also, Zdeněk, wie findet man den Weg, der in die Welt führt? 

Das ist eine Frage! Du hast sie selbst beantwortet. Aber das Gefühl, von dem du gesprochen hast, habe ich immer, wenn ich an internationalen Ausstellungen teilnehme, bei denen im Verzeichnis der ausstellenden Künstler Städte wie New York, Frankfurt, Paris, Madrid, Tokio und London aufeinanderfolgen, und dann sticht da plötzlich dieses Louny heraus. Das amüsiert mich immer und es tut mir gut, dass Louny in einem solchen internationalen Kontext auftaucht.

Wie findet man den Weg in die Welt? Es ist vor allem ein Weg, der über einen selbst führt. Und zu sich selbst kommt der Mensch nur dort, wo er sich wohlfühlt, wo er das Gefühl hat, zu Hause zu sein. Ich war nie darauf aus, in die Welt vorzudringen. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass ich mit meiner Manie, der Malerei, auf internationales Parkett gelangen könnte. Ich erinnere mich, dass es, als ich das Realgymnasium in Louny besuchte, mein erster Ehrgeiz war, in der hiesigen Glaserei Houda auszustellen. Dort wurde alles ausgestellt, was sich die Leute rahmen ließen. Das war mein erster Wunsch, der in Erfüllung ging. Ich hatte Glück, dass es am Gymnasium einen erstklassigen Menschen gab – Professor Mařík /Redaktionelle Anmerkung: Jaroslav Mařík (1888–1965), Pädagoge und bildender Künstler. Er studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Prag (Schikaneder, Preisler). Ab 1912 war er Zeichenlehrer am Realgymnasium Louny/, der mir die Grundlagen der bildenden Kunst vermittelte. Gegen Ende der Schulzeit hatte ich keinen anderen Wunsch und keine andere Leidenschaft, als weiter zu malen, was mir aber nicht gelang. Grundlegende Bedeutung für mein weiteres Leben hatte wiederum Louny. Dort entstand während des Krieges um den damaligen Bibliothekar Jaroslav Janík eine Gruppe kulturbegeisterter Leute /Redaktionelle Anmerkung: Jaroslav Janík (1901–1974), von 1933 bis 1946 Bibliothekar in Louny. Philosophisch interessiert und sehr gebildet. Er hatte entscheidenden Einfluss auf das intellektuelle Milieu in Louny. Er war u.a. mit Jindřich Chalupecký, Jiří Kolář, Jaromír Funke und Konstantin Biebl befreundet./, die Kamil Linhart initiierte und leitete. Hier eröffneten sich mir erst die weiten Horizonte der Kultur. Erst nach dem Krieg kam ich endlich zur bildenden Kunst, ich konnte nicht ohne sie sein. Ich hatte das Glück, hervorragende Professoren, wie Salcman, Lidický und Bouda zu haben. Alles andere hing allein von mir ab. Wichtig ist, das zu machen, wovon man besessen ist. Wen nur der Ehrgeiz und die Sehnsucht nach Ruhm und Geld antreiben, den erwartet eine freudlose Plackerei und es ist den Ergebnissen immer anzumerken.

 

Was denkst du über den Status des Künstlers in der Gesellschaft? 

Ich bin generell dagegen, einen Beruf über andere zu stellen. Warum sollte ein Sänger, Schriftsteller, Schauspieler oder Maler mehr sein als ein guter Maurer, Fleischer oder Doktor? Ich verstehe mich mit jedem gut, der wirklich etwas kann. Ein Künstler kann populär sein, er kann begeistern, das ist aber keine Lizenz dafür, eine höhere Position einzunehmen. Natürlich hat die Kunst andere Horizonte; sie ist eine Form des geistigen Ausdrucks, nicht des materiellen. Ganz so simpel ist eine solche Beurteilung wiederum nicht, doch im Prinzip ist es so, wie ich gesagt habe.

 

Wie viele Menschen begreifen die Qualität bildender Kunst? 

Wenn jemand vor einem Kunstwerk steht, besonders vor einem modernen, hängt es vom Grad seiner inneren Freiheit ab; die ist wichtig, damit der Mensch vor einem solchen Werk natürlich sein kann, so wie er wirklich ist. Dass jemand moderne Kunst nicht versteht, ist nur ein Missverständnis. Die Menschen verstehen alte Kunst genauso gut (oder so wenig) wie moderne. Entscheidend ist, ob jemand ein Gespür für Kunst hat oder nicht. Dann ist völlig gleichgültig, ob er sich moderne oder alte Kunst anschaut. Ich mache moderne Kunst, die den einfachen Menschen fern zu sein scheint. Doch gerade bei diesen Menschen finde ich Verständnis, sofern sie auch individuelle Persönlichkeiten sind.

 

Das Gefühl der inneren Freiheit entspringt in gewisser Weise aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Hast du das Gefühl, dass das hier bei uns schlechter ist als anderswo? 

Natürlich gibt es Unterschiede, denn hier war die Kontinuität der Kultur unterbrochen. Es gab die fünfziger Jahre, die die absolute Vulgarisierung der Kunst im sog. sozialistischen Realismus bedeuteten. Anfang der sechziger Jahre genügte eine gewisse Öffnung für ein paar Jahre, dass die Kunst ins öffentliche Bewusstsein gelangte. Die Veränderungen verliefen rasant: Von den Beschimpfungen in den Gästebüchern unserer ersten Ausstellungen dauerte es nicht einmal zwei Jahre und das Missverständnis war ausgeräumt. In anderer Form kehrten Unterdrückung und Isolation in der Zeit der sog. Normalisierung zurück, es war verboten, bestimmte Dinge (abstrakte Kunst generell) auszustellen.

 

Glaubst du, dass das Verständnis aus größeren Zusammenhängen entsteht oder aus einem umfangreicheren Wissen über zeitgenössische Kunst u.Ä.? 

Der einzige Weg ist, sich seine eigene Meinung zu bewahren, nicht den großen Reden über Kunst zu erliegen, die aus ihr etwas weit Unzugänglicheres machen, als sie in Wirklichkeit ist.

 

Wie steht es um Louny und die Kunst? 

Ich denke, in Louny gab es in der Zeit, in der die Benedikt-Rejt-Galerie in Betrieb war, ein hervorragendes Publikum für bildende Kunst. Sobald die Galerie wiedereröffnet wird, was unser Wunsch ist, und die Leute die Möglichkeit haben, jederzeit dorthin zu gehen, so wie man auf einen Kaffee oder ein Bier geht, wird die Kunst zu einem Teil ihres Lebens. Jeder, der möchte, der eine Affinität dazu hat, kann sich so ein Sandwich für die Seele gönnen. Wenn diese Möglichkeit über mehrere Jahre hinweg besteht, dann ist es überhaupt kein Problem, ein kunstbewandertes Publikum heranzubilden. Die Galerie in Louny besitzt die Voraussetzungen dafür: wunderbare Sammlungen, um die uns jede andere Galerie in der Republik beneiden kann. Man muss wieder beginnen auszustellen. In Prag werden die Ausstellungsmöglichkeiten abnehmen und Louny könnte einmal zu einem Ausstellungszentrum von großer Bedeutung werden. Ein allgemeines Kunstbewusstsein könnte also bei uns in ein paar Jahren eine Selbstverständlichkeit sein.

 

Manchmal erschreckt mich, dass alle grünen Alternativen links sind. Dort hat man uns aber lange genug die Kehle zugedrückt. Hier können wir nicht atmen und wählen rechts, uns fehlt die Ausgewogenheit. Was meinst du dazu? 

Für uns ist zurzeit wahrscheinlich eine Rechtsorientierung die Rettung, solange nicht anstelle einer fiktiven und falschen Wirtschaftsordnung wieder eine echte Ökonomie rehabilitiert wird. Wenn wir einmal so weit sind wie der Westen, können wir andere Überlegungen anstellen. Man kann nämlich sagen, dass der Kapitalismus an sich auch kein ideales Prinzip für das Leben ist. Er ist eine andere, natürlichere Art des Drucks auf den Menschen. Wir werden weiter suchen müssen. Ich weiß nicht, ob das links oder rechts sein wird. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen und müssen erkennen, wann diese Begriffe als politisches Instrument zum Machtgewinn von Einzelnen oder Gruppen dienen, was leider bis jetzt vorherrschend ist. Man muss nach einem Lebensstil suchen, nach dem Sinn der menschlichen Existenz, man muss versuchen, dem Leben auch einen ideellen Inhalt zu geben, das kann der Glaube oder eine alltagstaugliche Philosophie sein. Wir leben im „künstlichen Urwald der Zivilisation“, wo man nichts genau definieren kann. Es ist eine unaufhörliche Bewegung.

 

Erstmals erschienen in der Zeitschrift „Aréna“, 28. 1. 1992, Jg. 2, Nr. 1, S. 1. Das Interview ist im Buch Zdeněk Sýkora Rozhovory (Zdeněk Sýkora Interviews) zu finden.

Jaroslav Čása (1953), Freund aus Louny und Englischlehrer. Er besuchte regelmäßig den Kunstzirkel und Vorlesungen Zdeněk Sýkoras.